Grad Oechsle (°Oe): Das Maß aller Dinge im deutschen Wein?
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Wer sich zum ersten Mal intensiv mit deutschen Weinetiketten beschäftigt, stößt auf eine ganze Reihe einzigartiger Begriffe: Prädikatswein, Qualitätswein, Spätlese – und als technische Grundlage für all das: Grad Oechsle (°Oe).
Diese Maßeinheit ist das Herzstück des deutschen Weinrechts und ein entscheidender Indikator für die Qualität und den Charakter eines Weins. Doch was genau misst sie? Und – die wichtigste Frage – bedeutet ein hoher Oechsle-Wert automatisch, dass der Wein süß ist?
Wir klären auf.
Was ist Oechsle? Die Definition
Grad Oechsle (°Oe) ist eine Maßeinheit, die das Mostgewicht misst. Das Mostgewicht ist im Grunde die Dichte des Traubensaftes (Most), bevor er zu Wein vergoren wird.
Diese Dichte wird fast ausschließlich durch den natürlichen Zuckergehalt bestimmt, den die Traube im Weinberg gebildet hat. Je reifer die Traube, desto mehr Zucker, desto höher die Dichte und desto höher der Oechsle-Wert.
Technisch gesehen gibt der Oechsle-Grad an, um wie viel Gramm ein Liter Most mehr wiegt als ein Liter Wasser (der 1000 Gramm wiegt).
Beispiel: Ein Most mit 90° Oechsle wiegt 1090 Gramm pro Liter.
Warum ist Oechsle der Schlüssel zur Weinqualität?
In kaum einem anderen Land ist der Reifegrad der Trauben bei der Lese so entscheidend wie in Deutschland. Unsere nördliche Weinbauregion bedeutet, dass volle Reife nicht selbstverständlich ist, sondern ein echtes Qualitätsmerkmal darstellt.
Der Oechsle-Wert ist der gesetzliche Maßstab, der bestimmt, in welche Qualitätsstufe ein Wein eingeteilt wird.
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Qualitätswein (Q.b.A.)
Hierfür gelten moderate Mindest-Oechslegrade. Entscheidend ist: Bei dieser Stufe darf der Winzer dem Most Zucker zusetzen (Chaptalisation), um den potenziellen Alkoholgehalt zu erhöhen und den Wein harmonischer zu machen.
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Prädikatswein
Hier ist die Chaptalisation strengstens verboten. Die gesamte Qualität muss aus der Traube selbst kommen. Der Oechsle-Wert bei der Lese entscheidet über das Prädikat:
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Kabinett (die niedrigste Stufe)
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Spätlese (höherer Oechsle-Wert)
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Auslese
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Beerenauslese (BA) / Eiswein
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Trockenbeerenauslese (TBA) (der höchste Wert)
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Ein hoher Oechsle-Wert ist also ein Beweis für einen sonnigen Jahrgang, eine hervorragende Lage (siehe Terroir) und die akribische Arbeit des Winzers im Weinberg – wie etwa die Arbeit in den steilen Schieferhängen der Mosel, die unsere Partner K-J Thul und Goswin Kranz betreiben.
Der größte Irrtum: Oechsle = Süße
Das ist der wichtigste Punkt, den es zu verstehen gilt: Oechsle misst das Zuckerpotenzial, nicht die finale Süße im Wein.
Ein hoher Oechsle-Wert gibt dem Winzer zwei Möglichkeiten:
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Trockener Ausbau: Der Winzer lässt die Hefe den gesamten Zucker im Most in Alkohol umwandeln. Das Ergebnis ist ein trockener Wein mit einem relativ hohen, kräftigen Alkoholgehalt. Der viele Zucker wurde zu viel Alkohol.
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Süßer Ausbau: Der Winzer stoppt die Gärung (z.B. durch Kühlung), bevor die Hefe allen Zucker fressen konnte. Das Ergebnis ist ein restsüßer Wein mit weniger Alkohol, aber einer natürlichen Süße.
Das perfekte Beispiel: Spätlese Trocken
Der 2016 Mainstockheimer Hofstück Silvaner Spätlese vom Weingut Dr. Heigel ist der beste Beweis.
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Er ist eine Spätlese: Das bedeutet, die Trauben wurden mit einem hohen Oechsle-Wert geerntet – eine Grundvoraussetzung für dieses Prädikat.
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Er ist Trocken: Der Winzer hat diesen hochwertigen, zuckerreichen Most komplett durchgären lassen.
Du trinkst also einen Wein aus vollreifen Trauben (hohe Oechsle), der aber einen trockenen, eleganten und kräftigen Charakter hat.
Fazit: Ein Maß für Reife, nicht für Süße
Oechsle ist kein Garant für Süße, sondern ein Garant für Reife. Es ist das Qualitätsversprechen des Winzers, dass er vollreife, gesunde Trauben geerntet hat.
Was der Winzer daraus macht – ob einen kräftigen Trockenen oder einen filigranen Restsüßen – ist die eigentliche Kunst im Keller. Wenn du also das nächste Mal einen reinsortigen Weißwein mit Prädikat in der Hand hältst, weißt du, dass die Grundlage dafür im Weinberg gelegt wurde und mit Oechsle gemessen wurde.